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Jaimy Reisinger
Patissière & Gründungsmitglied des “Kuliktiv”
„Ich glaube, ich war immer schon künstlerisch veranlagt, schon als kleines Kind. Ich habe immer gern gezeichnet, gebastelt, eigene Welten geschaffen.“
Porträt geschrieben von Martina Baumgartner


Eigentlich wollte sie Tätowiererin werden wie ihr Vater. Und eigentlich haben wir ihm es ein wenig zu verdanken, dass Jaimy Reisinger heute Dessertkreationen macht, die unsere Vorstellungen vom süßen Finale eines Menüs bei weitem übertreffen. Denn er war es, der ihr nahelegte, vorher eine andere Ausbildung zu machen. Der Rest ist (Genuss-)Geschichte.
Schon früh zeigte sich Jaimy Reisingers Talent fürs Gestalten. Geboren und aufgewachsen in der Steiermark, startete sie mit 16 Jahren ihre Ausbildung zur Grafikerin in Graz. Doch der Weg in die klassische Kunstwelt war für sie nur der Start in das Kreieren von Meisterwerken. Doch vielmehr zog es sie zur angewandten Kreativität – zur Patisserie, in die Welt der Aromen, Texturen und Farben. Als Kind hat sie viel Zeit im Wirtshaus ihrer Oma verbracht, wo sie ihr und ihrer Tante bereits früh über die Schultern schauen konnte und mithelfen durfte. Ihre Begeisterung für die Gastronomie war entfacht. Bereits in jungen Jahren stand sie oft mit ihrer Mutter in der Küche, backte Cupcakes, experimentierte. Was als Freizeitspaß begann, wurde zu einer Berufung. Diese frühen Erinnerungen an die familiäre Küche sind bis heute ein Anker in ihrem kreativen Schaffen.
„Ich muss ehrlich sagen: Ich wollte schon immer meine Freiheit haben.“
Nach ihrer Entscheidung, die Grafikschule abzubrechen, unterstützten sie ihre Eltern vorbehaltlos: Hauptsache, sie lernte etwas, das sie erfüllte. Sie begann eine Konditorlehre bei Dominik Fitz, später bei Schwindhackl, einer Traditionskonditorei in Weiz. Dort, unter der Anleitung des 74-jährigen Meisters, eignete sie sich Techniken an, die heute kaum noch jemand lehrt – ein Schatz an Wissen, den sie seither bewahrt und weitergibt. Klassische Handwerkskunst, Geduld und Präzision wurden hier zur Basis ihres Könnens. Schnell fielen ihr Talent und ihr Ehrgeiz auf: Bereits kurz nach ihrer Lehrabschlussprüfung gewann sie den Falstaff Young Talents Cup in der Kategorie Patisserie. Mit 19 Jahren stand für Jaimy Reisinger fest, dass ihr Weg sie noch weiterführen sollte – hinein in die gehobene Gastronomie. Eine Entscheidung, die nicht nur Mut, sondern auch die Bereitschaft zur ständigen Weiterentwicklung erforderte.

Drei Jahre prägte sie als Patissière die Dessertkultur im „Artis“ in Graz von Philipp Dyczek. In dieser Zeit wurde sie 2023 auch zur „Patissière des Jahres“ ausgezeichnet. Parallel dazu bildete sie sich an der renommierten Londoner Schule „Le Cordon Bleu“ weiter, wo sie den Lehrgang „Diploma in Patisserie Innovation and Wellness“ absolvierte – ein Meilenstein, der ihren Fokus auf zuckerfreie, vegane und glutenfreie Patisserie schärfte. Die Station bei Hubert Wallner im Gourmetrestaurant am Wörthersee bis Herbst 2024 rundete ihre Entwicklung ab. Doch Jaimy Reisinger wäre nicht sie selbst, wenn sie den geraden Weg wählen würde. Immer wieder sucht sie bewusst neue Herausforderungen, neue Perspektiven. Praktika wie jenes in der Berliner „Coda Dessert Dining Bar“ von René Frank und Julia A. Leitner prägten ihren Blick auf Patisserie als künstlerische Ausdrucksform – mit Fokus auf eine perfekte Technik, kombiniert mit Emotionen und Geschichten, die über den Gaumen erzählt werden.
„Für mich ist die Patisserie eine Form des Ausdrucks – ich bringe ein Stück meiner Persönlichkeit auf den Teller.“
Ihre Desserts wie der „Grüne Salat mit Kernöl“ oder die „Libelle“ mit Haselnuss, Miso, Cranberry und Minze sind Ausdruck einer Freiheit, die sie sich hart erarbeitet hat. Sie fordern die klassischen Erwartungen an Dessertgänge heraus und schaffen neue sensorische Erlebnisse, die zugleich vertraut und überraschend wirken. Jedes Element ihrer Teller ist durchdacht – nicht inszeniert, sondern intuitiv komponiert.

Diese unbändige Kreativität verbindet sich bei Jaimy Reisinger mit einem tiefen Verantwortungsbewusstsein gegenüber ihrer Branche. 2024 gründete sie gemeinsam mit Kolleginnen wie Viktoria Fahringer, Sandra Scheidl und Helena Jordan das „Kuliktiv“ – eine Plattform für Kooperation, Förderung und Zusammenhalt in der Gastronomie. „Das Kuliktiv steht für Zusammenhalt in der Branche. Für ein Miteinander, anstatt andauernd gegeneinander zu arbeiten.“
Hier geht es nicht um bloßes Networking, sondern um echte Solidarität: Um die Erkenntnis, dass Erfolg nicht auf Kosten anderer entstehen muss. Dass wahres Können sich in der Bereitschaft zeigt, zu teilen, zu fördern, Brücken zu bauen, anstatt Gräben zu ziehen. Der Geist des Kuliktivs ist spürbar: gemeinsames Schaffen, gemeinsame Erfolge – eine Seltenheit in einer oft von Ellenbogenmentalität geprägten Branche.
Doch ihr Engagement endet nicht an der Passkante. Jaimy Reisinger lehrt auch am LFI Steiermark, der QUA – Qualifizierungsagentur sowie im WIFI-Lehrgang für Diplom-Patissiers. Ihr Schwerpunkt liegt auf modernen Techniken: zuckerfrei, glutenfrei, vegan. Sie modernisiert nicht nur die Patisserie – sie verändert auch das Bewusstsein des Nachwuchses. „Es ist total wichtig, dass man Wissen weitergibt, Rezepte weitergibt. In unserer Branche hocken viele auf ihrem Wissen. Dabei liegt die Zukunft darin, es zu teilen.“ Für sie ist Wissen keine Währung, die man hortet – sondern etwas, das wächst, wenn man es teilt. Was sie weitergibt, ist nicht nur Technik, sondern Haltung.
Die Liebe zu natürlichen Rohstoffen und ursprünglichen Aromen durchzieht ihre Arbeit wie ein roter Faden. Ihre Herangehensweise: Weniger ist mehr, Naturbelassenheit statt Überinszenierung. Auch vegane Techniken sind für sie kein Modetrend, sondern eine notwendige Weiterentwicklung der Branche. „Ich finde, wir sollten uns nicht dagegen sträuben, sondern die Möglichkeit nutzen, uns weiterzubilden.“ Und während andere noch diskutieren, ob vegane und glutenfreie Patisserie „echte“ Patisserie sei, arbeitet Jaimy Reisinger längst daran, neue Standards zu setzen – geschmacklich, ästhetisch und ethisch.


„Selbstkritik ist wichtig – aber wenn du alles anzweifelst, was du machst, verlierst du irgendwann den Bezug zu deiner eigenen Leistung.“
Abseits der Küche findet Jaimy ihren Ausgleich in der Natur, beim Reisen und beim Makrameeschmuck-Knüpfen. Drei Monate Asien – Vietnam, Kambodscha, Thailand, Indien – prägten nicht nur ihre kulinarische Sichtweise, sondern auch ihre Haltung: Offenheit, Neugier, Mut zur ständigen Weiterentwicklung. Für sie sind diese Reisen keine Flucht, sondern bewusste Schritte zur Horizonterweiterung, zur Selbstreflexion. Auch ihre persönliche Entwicklung als Köchin ist eng mit ihrem Selbstbild verbunden. Jaimy beschreibt sich selbst als extrem selbstkritisch – eine Eigenschaft, die sie lange begleitete. „Ich habe oft alles, was ich gemacht habe, als nicht gut genug empfunden.“ Gerade in einem Umfeld, in dem Lob selten ist und Kritik allgegenwärtig, wurde diese Selbstkritik zur dauerhaften Belastung. Heute weiß sie: Diese Haltung kann gefährlich werden.
„Selbstkritik ist wichtig – aber wenn du alles anzweifelst, was du machst, verlierst du irgendwann den Bezug zu deiner eigenen Leistung.“
Vor allem junge Frauen in der Branche, sagt sie, kämpfen oft mit diesem Druck. Während männliche Kollegen oft mit großer Selbstverständlichkeit auftreten, zweifeln viele Frauen permanent an sich. Für Jaimy Reisinger war es ein Lernprozess, sich selbst nicht länger kleinzureden. „Ich habe mal einen Satz gehört: Wenn du so mit deinen Freund:innen reden würdest, wie du mit dir selbst redest – dann hättest du keine mehr. Das hat mich tief getroffen.“ Gerade nach Auszeichnungen wie „Patissière des Jahres“ sei der Druck, sich selbst zu beweisen, enorm gewesen. Dabei gehe es in Wahrheit nicht darum, Erwartungen anderer zu erfüllen – sondern seinen eigenen Maßstäben treu zu bleiben.
Doch besonders deutlich wird Jaimy Reisinger, wenn es um den Umgangston in der Branche geht. Es sind nicht die stressigen Tage, nicht das hohe Arbeitspensum, das sie kritisiert – es ist die systematische Angstkultur, die in manchen Küchen herrscht. „Man merkt, wenn ein Team Angst hat – und diese Atmosphäre ist ein absolutes No-Go für mich.“ Sie spricht nicht von einem rauen Umgangston, der in stressigen Momenten vorkommen kann, nicht von langen Arbeitszeiten, die in Hochsaisonen selbstverständlich vorkommen können. Sondern von psychischem Druck, gezieltem Kleinhalten, einem System aus Einschüchterung und Manipulation, das Menschen zermürbt – bis hin zu physischer Gewalt. Sie selbst hatte das Glück, das nie selbst erleben zu müssen, erfuhr es aber aus Erzählungen vieler Kollegen und Kolleginnen. Viele sprechen nicht darüber – aus Angst oder aus falsch verstandener Loyalität.

„Dass man Dinge über sich ergehen lassen muss, um dazuzugehören – das darf nicht mehr als normal gelten.“
Jaimy benennt, was viele in der Branche nur hinter vorgehaltener Hand sagen: Dass zu viele junge Talente an den falschen Strukturen zerbrechen. Dass der Personalmangel nicht allein an den Arbeitszeiten liegt, sondern oft am Klima, das in Küchen herrscht. Betont aber auch, dass es genug Betriebe gibt, die mit gutem Beispiel in Sachen Mitarbeiter:innenführung vorangehen. Vielleicht ist es genau diese Mischung aus radikaler Ehrlichkeit, unbändiger Kreativität und ruhiger Entschlossenheit das, was Jaimy Reisinger zu einer der spannendsten Persönlichkeiten der jungen Gastronomie-Generation macht. Eine Persönlichkeit, die den Mut hat, neue Wege zu gehen – nicht weil sie leichter sind, sondern weil sie richtiger sind. Heute, sagt sie, stehe sie zum ersten Mal im Leben an einem Punkt, an dem sie sich nicht stresse. An dem sie nicht das Gefühl habe, etwas zu verpassen. An dem sie einfach ankommen dürfe.
„Jetzt nehme ich es, wie es kommt.“ Ein Satz, der weniger nach Stillstand klingt als nach einem neuen Anfang – möglicherweise sogar mit Support von außen, der sie dabei unterstützt, ihre nächsten (kulinarischen) Schritte in einem eigenen Restaurant umzusetzen. Wo Jaimy Reisinger ihren kulinarischen Freiraum hat, in dem noch viele außergewöhnliche Dessertkreationen entstehen werden – jede einzelne davon ein kulinarisches Kunstwerk, das Geschichten erzählt.
4 Fragen an Jaimy Reisinger
Welche Frau in der Branche beeindruckt dich?
Julia Leitner, Head Chef im Coda Dessert Dining in Berlin, ist beeindruckend: Ich hatte noch nie zuvor in einer Küche arbeiten dürfen, die so professionell und ruhig geführt wird. Außerdem möchte ich da Sonja Rauch von den Geschwistern Rauch erwähnen. Sie beeindruckt mich sehr, denn sie ist nicht nur eine unglaublich starke und zielorientierte Unternehmerin – sie schafft es, eine großartige Gastgeberin zu sein, die zudem für ihr Team einsteht. Diese außergewöhnlichen Führungsqualitäten inspirieren mich.
Wer inspiriert dich noch?
Die Drei-Sterne-Köchin Dominique Crenn ist ein großes Vorbild für mich. Ich finde ihre Persönlichkeit genial: Sie ist laut, aufgeweckt, sie ist eine Macherin. Das finde ich sehr wichtig – weil ich glaube, dass Frauen in der Branche sonst eher immer ein wenig vorsichtig und zurückhaltend sind. Dominique Crenn aber haut auch schon mal auf den Tisch.
In welchem Bereich würdest du deine beruflichen Skills gerne noch erweitern?
Ich bilde mich gerne selbst laufend weiter, ich lese zum Beispiel extrem viele Bücher und höre viele Podcasts. Da ist etwa der Leadership-Bereich, wo ich mein Know-how noch ausbauen möchte. Das ist mir total wichtig: Wenn mir eine Aufgabe zugeteilt wird, dann will ich sie auch so gut machen, wie sie mir möglich ist.
Welche Frau sollte bei Female Chefs noch porträtiert werden?
Ganz klar Sophie Mussotter, die Gewinnerin des „Patissière des Jahres 2023“ Wettbewerbs.